Auf dem Blumenweg
Mit dem Stecken von Blumen die eigene Natur entdecken? Ja! Wie Ikebana uns mit unserer äusseren und inneren Natur (wieder) zu verbinden vermag, das zu vermitteln liegt mir am Herzen. Ich heisse Carmen Rothmayr und ich lehre Ikebana, die entschleunigende Kunst der Beobachtung.
In die Welt der Blumen geboren
Den Weg der Blumen einzuschlagen, war mir in die Wiege gelegt. In einer Tessiner Blumengärtnerei am Waldrand aufgewachsen, war ich schon von Kindesbeinen an mit Pflanzen und Natur verbunden. Schon fast selbstverständlich war es, dass ich den Beruf der Floristin ergriff und, als ich nach Küsnacht, dem Ort meiner Geburt, zurückkehrte, mich dort selbständig machte.
Auch dass ich mich auf den Kadō begab, ergab sich wie von selber. Immer mehr widerstrebte es mir, kompakte Sträusse zu machen, in denen die einzelnen Blumen in der Masse erdrückt werden. Und so wurden meine Arrangements nach und nach reduzierter, lockerer und luftiger. Der anschliessende Schritt, die Blumensteckkunst Ikebana zu studieren und in diese Welt einzutauchen, war ein kleiner.
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Kadō – der Blumenweg
Ikebana wird auch Kadō, Blumenweg, genannt. Die seit dem 6. Jahrhundert belegte Blumensteckkunst ist weder Schöngeisterei noch blosser Zeitvertreib; ihr – so die Tradition – verschreibt man sich. Begibt man sich auf den Blumenweg, dann lernt man nicht nur Regeln, Handgriffe und erwirbt Pflanzenwissen. Er ermöglicht auch eine langsame innere Wandlung und Reife – eine Charakterschulung gewissermassen. Und dabei gilt, was vielen asiatischen Künsten eigen ist: Ausgelernt hat man nie.
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Die Fülle der Leere
Das offensichtlichste Merkmal, das Ikebana-Gestecke von unseren klassischen Blumensträussen unterscheidet, ist die oft sehr schlichte Kargheit. Gewöhnt an die dichtgedrängte Fülle unserer Sträusse nehmen wir unwillkürlich wahr, dass da etwas fehlt. Denn da ist leerer Raum, und zwar viel davon; ein Nichts also, das dazu da ist, befüllt zu werden. Nicht so aber in der japanischen Kultur. Dort ist dieser leere Raum kein Nichts, er ist ein Etwas, und von solcher Bedeutung, dass es ein eigenes Wort für ihn gibt: Ma 間. Ma ist jeder leere Bereich, um den herum man einen japanischen Zen-Garten gestaltet und um den herum man Äste eines Gehölzes beschneidet. Ma strukturiert und definiert nicht nur den Abstand zwischen Dingen und somit die Dinge selbst, sondern bietet – buchstäblich – Raum für alles Neue, das entstehen will. Kurz: für das Leben.
Ein anderer Zugang zur Natur
Ikebana bot mir neue, kreative Ausdrucksmöglichkeiten. Viel wichtiger jedoch: Es eröffnete mir einen unerwartet neuen Zugang zur Natur. Denn Ikebana ist weit mehr als nur ein Arrangieren von floralem Material, es ist eine Beobachtungskunst. Egal welcher Ikebana-Schule und -Stilrichtung man folgt, allen liegt dasselbe zugrunde: die Be(ob)achtung der Natur. Man setzt sich auseinander mit jeder einzelnen Blume, jedem Halm und Zweig. Denn erst wenn wir deren Natur, den jeweiligen Charakter, die Individualität und innere Schönheit erkennen, können wir sie auch richtig präsentieren. Und zwar in ihrem Hier und Jetzt. Es ist kein Zufall, dass die Jahreszeiten bei Ikebana eine so wichtige Rolle spielen, geht es doch stets auch um eine Imitation der Natur, die man – künstlerisch übersetzt – von draussen in den Wohnraum holen möchte.
Ikebana verleiht einem unweigerlich ein neues Auge für Pflanzen. Sobald man damit anfängt und sich näher damit beschäftigt, wird man die Natur vor der eigenen Haustüre anders betrachten. Und das wird einen verändern – im positivsten Sinne.
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Der Name «Ikebana» 生け花
Wie naturnah Ikebana ist, lässt bereits die Übersetzung erahnen. Während der zweite Teil von hana (= Blume, Pflanze oder Pflanzenteil) abgeleitet ist, stecken im ersten Teil – gleichzeitig – die drei folgenden Verben:
ikeru stellen, anordnen
ikiru leben, zur eigentlichen Gestalt kommen
ikasu das Leben zur Geltung bringen, zur eigentlichen Gestalt verhelfen
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Uralt und doch aktueller denn je
Bemerkenswert ist, dass Ikebana – eine so alte Tradition aus einer uns so fremden Kultur – für unser Hier und Heute wie geschaffen erscheint. Selten findet man Achtsamkeit und Entschleunigung nicht als inhaltsleere Modewörter, sondern so selbstverständlich und unaufgeregt gelebt wie hier. Sei es beim Sammeln und Zusammenstellen der Materialien, beim still versunkenen Stecken des Arrangements oder beim Betrachten, wenn dieses fertig ist. Verschiedene Studien belegen die heilsame Wirkung von Ikebana: Die Ausübung führt zu mehr ausgeglichener Gelassenheit, einer erhöhten Resilienz und verbesserten Konzentrationsfähigkeit. In einer Welt, in der wir einer ständigen Flut von Informationen, Bildern und Ablenkungen ausgesetzt sind, ist es eine ungewohnt wohltuende Abwechslung, sich für einmal einem «Monotasking», einer einzigen Aufgabe widmen und gänzlich in ihr versinken zu können. Das lange Lernen der zum Teil hochkomplexen Regeln und der sorgfältige Umgang mit dem teils sehr fragilen lebenden Material – beides erfordert und fördert Geduld und Durchhaltewille. Ungewohnt für uns, die wir in der Mausklick-Überfluss-Welt verlernt haben, auf etwas warten zu müssen … oder uns zu beschränken. Und gerade darin, in der Beschränkung auf das Wesentliche, liegt beim Gestalten eines Ikebana-Gestecks nicht nur die hohe Kunst, sondern zugleich auch das grosse Vergnügen. Ein Widerspruch? Ganz im Gegenteil: Auch das ist Ma 間.
Weiterführende Infos
Unter dem Motto «Entdecke deine Natur» gebe ich
Kurse in Ikebana und Shinrin Yoku (Waldbaden)
in Küsnacht.
Instagram: @carmen.rothmayr
Dieser Text entstand auf Grundlage des Porträts «Auf dem Blumenweg», das im Pflanzenfreund 06/22 erschienen ist, verfasst von Nicole Häfliger, www.wortwollen.ch